Sollten wir die Tatsachenentscheidung (als letzte Instanz) abschaffen?

Abolitionists

Die 'Tatsachenentscheidung' ist eine der tendenziell absolutistischen Institutionen im Fußball. Sie besteht darin, dass Entscheidungen des Schiedsrichters, ob korrekt oder nicht, im Nachhinein des Spiels nicht angetastet werden können. Damit verlängert sich die ohnehin sehr starke Machtposition der Schiedsrichterin, die auf dem Platz die Aufgaben von Polizei, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Richterschaft in sich vereinigt.

Der Impuls, zumindest im Nachgang des Spiels eine Revisionsinstanz zu schaffen, die in der Lage ist, fehlerhafte Entscheidungen zu korrigieren, speist sich daraus, dass selbst eine optimale - bestmögliche - Schiedsrichterleistung auch zu falschen Entscheidungen führen wird. Die in Sekunden gefällten Urteile der Unparteiischen in Stein zu meißeln stärkt ihre Position nicht, sondern erhöht nur den Druck indem die Wirkmacht der Entscheidungen verlängert werden. (Dies ist wohl der selbe Grund, aus dem die andere offiziell unfehlbare Institution der Welt, der Papst, diesen Anspruch nur selten tatsächlich geltend macht und ex cathedra spricht.

Um hilfreich über den Status der Tatsachenentscheidung zu diskutieren ist jedoch zuerst nötig zu klären, um welche Tatsachen es dabei überhaupt geht. Es gilt hier, drei unterschiedliche Bedeutungen zu unterscheiden und für sich zu betrachten: Zum einen ist da das spielerische Geschehen, über das der Mann/die Frau/etc in Schwarz/Grün/Himmelblau/leuchtend Gelb/Grau zu befinden hat. Was hier passiert ist zwar tatsächlich der Fall, aber mitnichten immer eindeutig, vor allem nicht unmittelbar: die Bewegungen enthalten die Möglichkeit vieler Sachlagen. Das Bild, dass sich der Schiedsrichter vom Spiel macht, ist eine Tatsache, und es zu erstellen ist seine Aufgabe. Die dazu getroffenen Entscheidungen nehmen offensichtlich Einfluss darauf, was im weiteren Verlauf des Spiels selbst geschieht, aber nicht nur das. Sie sind auch Grundlage einer dritten Kategorie von Tatsachen: jenen, die nach dem Spiel in Bezug auf dasselbe produziert werden.

Interessant für unsere Frage ist, dass diese dritte Ebene von Tatsachen nicht vollständig auf die ersten beiden reduzierbar ist: die Welt des Fußballs ist mehr als alles, was auf dem Platz der Fall ist. Während sich Dinge wie Pässe, Schüsse und Spielstände aus dem Spiel und seiner Einordnung durch die Schiedsrichterin ergeben, bedarf es für das Zustandekommen vor allem von Sperren weiteren Handelns.

Weder der Begriff noch das Prinzip 'Tatsachenentscheidung' unterscheiden klar zwischen diesen recht verschiedenen Vorgängen. In unserem Vorschlag hingegen sind wir genau darum bemüht. Denn während es für die Wechselwirkung zwischen Spielgeschehen und -leitung sehr sinnvoll ist, die Ereignisse der neunzig Minuten als ebenso endgültig zu betrachten, wie das Spielergebnis, dass sich daraus ergibt, gibt es keinen guten Grund, sich mit Sperren an Entscheidungen zu orientieren, die sich als falsch herausgestellt haben. (Damit ist offenbar Voraussetzung, dass die Instanzen, die solche Bewertungen vornehmen, epistemischen Zugang auf das Geschehen haben. In der Praxis des unterklassigen Fußballs wird dieser oft nur durch die Beschreibung des Schiedsrichters hergestellt sein. Auch in dieser könnte sich aber eine Differenz zur Entscheidung im Moment ergeben.)

Damit würde nicht mehr Entscheidungsgewalt auf Sportgerichte übertragen werden, sondern lediglich deren Entscheidungsspielraum vergrößert. Die vielzitierte und in Spielen allzu oft missachtete Autorität des Schiedsrichters müsste unter einer solchen diskursiven Öffnung nicht leiden - im Gegenteil. Vielleicht entstünde daraus ein kollaboratives Verhältnis zwischen Spielern, das Druck von Schiedsrichtern nähme und das Verhältnis entspannen könnte. Oder vielleicht entstehen Anfeindungen und Protest ohnehin bloß aus den Emotionen des Moments.

Gegen den hier unterbreiteten Vorschlag wird unter anderem eingewandt werden, dass viele Fälle uneindeutig und retrospektive Entscheidungen nicht immer leichter oder richtiger sein werden als die ursprünglichen. Obwohl das stimmt, erwächst daraus kein schlagendes Argument gegen die vorgeschlagene Veränderung. Das Beste soll hier nicht zum Feind des Guten werden: wenngleich viele Situationen kompliziert und unklar bleiben, gibt es doch auch solche, in denen nachträgliche Einordnung klare Ergebnisse bringt - Collinas Erben versorgen uns mit genügend Anschauungsmaterial für beides.

Eine ähnliche Verteidigung können wir gegen einen anderen Angriff vorbringen, nämlich dass etwa mit nachträglich annullierten Sperren der Ungerechtigkeit, dass eine Mannschaft Teile eines Spiels in Unterzahl verbringen musste, nicht abgeholfen wird. Das stimmt zwar, spricht aber nicht dafür, diesen suboptimalen Vorgang länger fortzusetzen als nötig.

Wie weit reicht diese Notwendigkeit? Auf Grund der sequentiellen Natur des Spiels, weil also Ereignisse auf einander kausal und nicht nur zeitlich folgen, lassen sich andere mögliche Spiele als das durch die getroffenen Entscheidungen entstandene nicht herstellen, indem nur einzelne Situation umgewertet werden. In anderen Worten: Wir müssen einsehen, dass nicht eines der Fall sein kann oder nicht und alles übrige gleich bleiben. Ein ganzer alternativer Spielverlauf hingegen ist durch uns jemals zur Verfügung stehende Information unterdeterminiert.

Eine Ergänzung der Weise, in über das Spiel gerichtet wird, geht gerade von dieser Erkenntnis aus. Statt einer anderen, nachgelagerten Instanz Raum zu geben, den Schiedsrichter zu korrigieren, könnte er selbst Gelegenheit dazu bekommen, und noch im Lauf des Spiels zuvor fälschlich unterlassene persönliche Strafen aussprechen können. Wäre etwa Mark Clattenburg erst in der Halbzeitpause des Champions League Finals der Unsportlichkeiten Pepes gewahr geworden, sollte er auch dann noch Gelegenheit haben, ihn für sie gerecht zu bestrafen. Mehr zeitsouveränes Entscheiden wäre eine zeitgemäße und undogmatische Hilfestellung für Schiedsrichter.

Was während des Spiels passiert, bleibt also eine nicht zu ändernde Tatsache. Die Freiheiten, die uns die Welt darüber hinaus lässt, sollten wir aber nutzen.

Schiedsrichter, Tatsache
Nicht unfehlbar, aber letztgültig entscheidend. Sollen wir die heilige Kuh Tatsachenentscheidung schlachten?

Refereealists

Mit Alex Feuerherdt.

Die Tatsachenentscheidung ist nicht nur aus traditionellen Gründen ein zentraler Baustein des Fußballregelwerks, sondern auch elementar dafür, dass der Schiedsrichter seine Rolle im Spiel ausfüllen kann. Diese besteht den Statuten gemäß darin, 'den Regeln Geltung zu verschaffen'. Deshalb trifft er während des Spiels Entscheidungen, die unmittelbar (das heißt, mit der nächsten Spielfortsetzung) wirksam sind. An diesem Punkt sind sie schlichtweg (soziale) Tatsachen, ebenso wie die vollzogenen Bewegungen der Spieler und die Anordnung der Grashalme auf dem Spielfeld. Und ebenso wenig wie die letztgenannten können sie retrospektiv geändert werden.

Aus dieser Charakterisierung der Schiedsrichterin und des Status ihrer Entscheidungen folgen auch schon die Begrenzungen der Institution, die Schiedsrichter und Podcaster Alex Feuerherdt so beschreibt: "Es wird unterschieden zwischen einer falschen Tatsachenentscheidung und einem Regelverstoß. [...] Ein Regelverstoß liegt immer dann vor, wenn der Schiedsrichter die Regeln in einer spezifischen Situation falsch anwendet. [...] Eine falsche Tatsachenentscheidung hingegen basiert auf einer falschen Wahrnehmung. Der Unterschied zwischen beiden ist in den meisten Situationen sehr deutlich."

Solche Regelverstöße nicht zu begehen ist die originäre Aufgabe des Schiedsrichters, und sie nicht bestehen zu lassen die der Sportgerichtsbarkeit. Dagegen verstehen sich die Sportgerichte nicht - in den Worten des Vorsitzenden des DFB Sportgericht Hans E. Lorenz - als "Reparaturbetrieb für falsche Schiedsrichterentscheidungen."

Und das, wie Feuerherdt findet, mit sehr gutem Grund, denn jede andere Haltung würde die Büchse Pandoras öffnen und der Entscheidung oder Entwertung von Spielen am grünen Tisch Tür und Tor öffnen. Sie würde nicht nur das Erlebnis des Spiels zerstören, bei dem die Wahrheit nicht nur auf dem Platz liegt sondern auch bei Abpfiff für alle greifbar ist; sondern auch ignorieren, dass auch der Schiedsrichter einer "der Menschen ist, von denen das Spiel betrieben wird, und mit seinen - natürlich nicht immer richtigen - Entscheidungen dazu beiträgt." Schließlich möchte auch niemand Fehlleistungen der Spielerinnen im Nachhinein korrigieren, das Spiel lebt von der Spannung zu sehen, was in jedem Moment wirklich passiert.

Zulässig sind demnach nur Ausnahmen von dieser Regel, die Entscheidungen des Schiedsrichters nicht revidieren, sondern ergänzen. Das geschieht vor allem, wenn sich grobe Unsportlichkeiten ereignen, ohne überhaupt, richtig oder falsch, wahrgenommen zu werden. Nur in solchen Fällen werden nachträglich Strafen ausgesprochen. Das ist mit dem Prinzip der Tatsachenentscheidung kompatibel, da hier die Strafgewalt des Schiedsrichter nicht in Frage gestellt, sondern in ihrem Sinne ausgedehnt wird.

Jeden Entscheid des Schiedsrichters im Nachgang angreifbar zu machen ist, so Feuerherdt, außerdem nicht nur falsch, sondern auch absolut impraktikabel. Scheitert der Versuch , vermeintliche Irrtümer des Referees aus Ergebnissen herauszurechnen, schon für die Elitespielklassen, so ist er für den Breitensport erst recht undenkbar. Die Vorstellung, Sportgerichte überall im Land wollten oder könnten auf Grundlage schriftlicher Zeugenaussagen das wahre Ergebnis zu finden, ist vollkommen abstrus.

Der Lehrwart des Fußballkreises Mittelrhein vertritt außerdem die Ansicht, dass damit, dem Schiedsrichterspruch Endgültigkeit zu gewähren, die gerechtest-mögliche Lösung gefunden wird - und man sich vom "Ideal vollkommener Gerechtigkeit durch Mittel wie den Videobeweis oder spätere Korrekturen verabschieden sollte." Es gäbe in den meisten Fällen schlicht keine Instanz, die besser informiert und vorbereitet ist, richtige Entscheidungen zu treffen, als die Unparteiische auf dem Feld.

Selbstverständlich entsteht aus der Stellung des Schiedsrichters als alleinigem und letztgültigem Entscheider große Verantwortung. Die richtige Antwort darauf besteht aber nicht in einer Schwächung dieser Rolle, sondern eher in optimaler Vorbereitung und Schulung.