Argentiniens Fußball, Identität und Tragik
Durfte Cesar Luis Menotti die Argentinische Nationalmannschaft zu Zeiten der Junta trainieren?
Eine Rezension von Jonathan Wilsons Angels with Dirty Faces als Fallstudie.
Apologie
Von Daniel Roßbach
In Angels with Dirty Faces beschreibt Jonathan Wilson die konfliktreiche Identität des Argentinischen Fußballs, und wie sie sich in den letzten 125 Jahren entwickelt hat. Er beschreibt die Stadien als die Orte, an denen sich die Identität eines Landes entwickelte, das stets hin- und hergerissen ist zwischen Abschottung und Austausch mit der Welt, sei es um Impulse zu empfangen oder die eigenen Errungenschaften zu demonstrieren. Und das sich ebenso wenig entscheiden kann, ob es pragmatisch Erfolg anstreben sollte, oder ob wirklicher Erfolg nur in Triumphen liegt, in denen die höchste Form der eigenen (Fußball)ideologie verwirklicht wird. Dass die Inhalte dieser Ideologie nur schwammig zu artikulieren sind, wird schon in ihrem Namen - la nuestra, die Unsere - deutlich: Sie ist, worin sich ein Land wiederkennt, das dauernd im Zweifel über die eigene Identität erscheint.
Kaum eine andere Episode dieser Geschichte zeigt dabei die komplexe Beziehung zwischen Argentiniens Fußball und seiner politischen Geschichte so gut wie die der (gewonnenen) Weltmeisterschaft in Argentinien 1978, als eine von Cesar Luis Menotti, dem linken Chefideologen des Argentinischen Fußballs trainierte Mannschaft im Finale die Niederlande schlug und Daniel Passarella den Pokal Jules Rimet von General Videla, dem Präsident der faschistoiden Militärjunta überreicht bekam.
Ist es zu verurteilen, dass Menotti diese Mannschaft trainierte, dass Spieler in ihr antraten? Stellten sie sich damit in den Dienst einer brutalen, mörderischen Diktatur? Und hätten sie anders handeln können und sollen?
Die Schwierigkeit dieses Falls liegt darin, dass die Antworten auf diese Fragen in unterschiedliche Richtungen weisen. Denn niemand kann bezweifeln, dass zumindest die Junta die Albiceleste als ihre Repräsentanten in Anspruch nahm, dass sie den sportlichen Erfolg als Triumph ihres faschistischen Programms darstellten, kurz, dass die Weltmeisterschaft (als Veranstaltung und Ergebnis) ein Propaganda Instrument war. Angesichts der unfassbaren Brutalität eines Regimes, dass 30.000 Argentinier ermordete, hunderte mehr in einem sinnlosen Krieg sterben ließ und die viele weitere Leben mit Folter und Kindesraub zerstörte, ist jedes Handeln, das auch nur vielleicht zur Stärkung und Verlängerung der Diktatur beitragen konnte, eine moralische Katastrophe.
Auch Wilsons Portrait der Vorgeschichte der WM '78 lässt wenig Hoffnung daran aufkommen, dass Fußball Bühne oder Vehikel des Protests sein konnte - auch wenn darin vorkommt, dass 1976 in der Kurve Huracáns ein Banner der widerständigen Montoneros gezeigt wurde. Die Diktatur antwortete auf diese Geste, wie auf so vieles andere, mit tödlicher Gewalt. Und so beruht auch Menottis Verteidigung seiner Beteiligung nicht darauf, mit Fußball dem Regime etwas entgegensetzt zu haben. Der als Salonkommunist bekannte Trainer, der mit Huracán eine so bejubelte wie sensationelle Meisterschaft gewann, verteidigte trotzdem seine Entscheidung, nach dem Coup der Junta sein 1974 angetretenes Amt weiterzuführen. Er bestand darauf, seine Mannschaft und ihren Fußball nicht mit dem Staat Argentinien, sondern seinem Volk zu identifizieren, motivierte seine Spieler, nicht für die Generäle in den VIP Logen, sondern ihre Familien auf den Tribünen zu spielen.
Dieser Ansatz muss zu einem gewissen Grad heuchlerisch erscheinen, da natürlich die Bedingungen, unter denen bei der WM '78 Fußball gespielt wurde, von der Diktatur bestimmt wurden - ob sie die Peruanische Mannschaft vor dem Zwischenrundenspiel gegen Argentinien einschüchterte oder nicht. Doch er ist auch nicht ganz falsch. Denn eine Fußballmannschaft steht zumindest in komplizierter Weise für ein Land als ein Armeekorps. Wie zu einer vorherigen Gegelegenheit auf diesen Seiten diskutiert, gibt es vielfältige Gründe, sich der eigenen Nationalmannschaft verbunden zu fühlen. Wenn nicht alle dieser Gründe auf verurteilenswerten Nationalismus zu reduzieren sind, oder den aktuellen politischen Institutionen Legitimität zuschreiben, gab es auch für Gegner und Opfer des Regimes in Argentinien, die Mannschaft von Menotti als ihre zu sehen, sich an Siegen oder gutem Fußball zu freuen, ohne damit die Junta zu bejubeln. Und selbst, wenn solche Haltungen scharfer kritischer Überprüfung nicht stand hielten, mögen doch viele Menschen in Argentinien ein Gefühl geteilt haben, das Wilson in den Worten eines Journalisten zitiert, der 2003 darauf zurück blickte: "Lasst uns Fußball spielen, ohne den Schatten des Todes durch irgendeinen Spalt in die Stadien fallen zu lassen. Und lasst uns um die Toten trauern, ohne uns von irgendetwas ablenken zu lassen von unserem Schmerz."
Das bringt uns zum eigentlichen Fußball, den Argentinien unter Menotti spielte - denn dieser könnte einer dieser alternativen Identifikationsfaktoren sein. Und obwohl in Angels with Dirty Faces weniger detaillierte Schilderungen des Stil von Mannschaften und Spielern vorkommen, als man sich vom Autor von Inverting the Pyramid wünschen könnte, zeigt Wilson gut das Spannungsfeld auf, in dem die Mannschaft sich befand.
Mit einem 1-6 gegen die Tschechoslowakei war bei der WM 1958 die idiosynkratische goldene Zeit des Argentinischen Fußballs augenscheinlich abgelaufen. In der Folge feierten Vereine wie Velez und Estudiantes mit diversen Interpretationen von anti-futbol Erfolge, und schufen, oder vertieften, so die identitäre Spaltung des Argentinischen Spiels. Menottis Name sollte bezeichnend werden für die idealistische Fraktion in dieser Auseinandersetzung.
Doch gleichzeitig verzichtete Menotti in seinem Kader nicht nur auf einen - sehr jungen, aber schon herausragenden - Maradona, sondern auch auf Ricardo Bochini, das spielerische Herz Independientes, den man an Hand von Wilsons Buch entdecken kann. Er hatte das Nachsehen gegenüber der Brillanz von Mario Kempes - und litt wohl unter politischer Einflussnahme zu Gunsten von Beto Alonso, der mit der Rückennummer 1 als Option von der Bank im offensiven Mittelfeld eingesetzt wurde.
Um Kempes technische, athletische und gedankliche Geschwindigkeit herum baute Menotti eine Mannschaft, die Spiele selten wirklich dominierte, es aber verstand, ihre größten individuellen Fähigkeiten produktiv einzubinden. Dies geschah etwa durch Ansätze von Pressing und einen Fokus auf Schnellangriffe, die zu eins-gegen-eins Situationen für die Angreifer im 433 führten. Argentinien kreirte in diesem Turnier Momente begeisternden Fußballs, aber keine stilbildende oder epochemachende Vorlage eines Stils oder Konzepts. Vielleicht hält sich auch deshalb die retrospektive Wahrnehmung, die Niederlande seien wie vier Jahre zuvor das eigentlich überragende Team des Turniers gewesen.
Die richtige Einordnung der Mannschaft von 1978 in die (zweifelhafte) Taxonomie des Argentinischen Fußballs mag nicht eindeutig sein. Doch Wilsons Urteil, dass sie zumindest keine Verkörperung der Ideologie der Junta war, erscheint gut fundiert.
Aus Torhüter Fillol spricht hier das Verlangen, das, was man eben tut, und was an sich nicht falsch ist, auch unter tragischen Umständen tun zu können, das auch Menotti in seiner Rechtfertigung zum Ausdruck bringt, mit der Wilson ihn zitiert:
Was hätten wir tun sollten, fragte Menotti: "eine Mannschaft formen, die schlecht spielt, die alles auf List ankommen lässt, die die Gefühle der Leute betrügt? Nein, natürlich nicht." Stattdessen habe sein Fußball das freie, kreative Argentinien verkörpern sollen, das vor der Junta existierte. Doch das idealisiert ihn. Menotti profitierte von der politischen Situation [und ...] wenn sich im Turnier ein Vorteil anböte, würde Argentinien sicher gehen, ihn zu ergreifen.
Angels with Dirty Faces, S. 204
Diesen Antrieb teilten die Argentinier außerdem mit allen anderen teilnehmenden Nationen, unter denen gerade die deutsche Delegation kein besonders ausgeprägtes Rückgrat unter beweis stellte. Dabei hätte ausländische Sportler und Verbände sowie die internationalen Sportorganisationen sehr viel mehr Spielraum gehabt, sich gegen die Diktatur auszusprechen - und natürlich zu verhindern, dass diese überhaupt zum Gastgeber des Turniers werden und darauf inmitten drastischer Wirtschaftskrisen immense Ressourcen verwenden durfte. Das war ein Verbrechen, an dem die argentinische sportliche Vertretung keinen größeren Anteil hatte als andere.
Natürlich lässt all das Raum für besseres moralisches Handeln, wie es - vielleicht, wahrscheinlich - Verteidiger Jorge Carrascosa von Huracán an den Tag legte, der sich, nachdem er 1974 in Deutschland für Argentinien spielte, weigerte, berufen zu werden. Für eine eindeutige Verurteilung Menottis und seiner Spieler - so das Fazit nach der Lektüre von Wilsons narrative Anthologie - reicht es aber nicht.
Eisangelia
Es gibt moralische Fragen die glasklare Antworten haben. Und es gibt moralische Fragen, für die gilt, dass manche Antworten auf sie klarerweise falsch sind; das Finden der richtigen Antwort jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten verknüpft ist. Ich möchte nicht behaupten, dass die Frage danach, ob Menotti die argentinische Nationalmannschaft bei der WM 1978 hätte trainieren sollen, in die erste Kategorie gehört. Wenn ich also im Folgenden dafür argumentiere, dass er das Amt des Nationaltrainers damals hätte ablehnen sollen, dann will ich nicht sagen, dass Menotti der Teufel höchstpersönlich und sein Handeln moralisch umfassend verwerflich war. Menotti war der Fußballtrainer Argentiniens, nicht der Folterknecht der Junta. Das macht einen Unterschied – die Frage ist nur, ob dieser Unterschied groß genug ist, um zur Feststellung zu gelangen, dass Menotti das Richtige getan hat als er das Amt des Nationaltrainers unter einer brutalen Militärdiktatur annahm.
Zu den historischen Hintergründen sagte Daniel ja bereits einiges, so dass ich direkt zu meinem Kernargument übergehen kann. Zu Beginn jedoch erst einmal eine Passage aus Wilsons Buch, welche die moralische Komplexität der WM 1978 eindringlich vor Augen führt:
Many detainees were allowed to listen to commentary of the final on the radio, supporting their country although they despised the regime that governed it. Anthropologist Eduardo Archetti relates the story of prisoners shouting „We won! We won!“ in their cells and being joined in their celebrations by Captain Jorge Acosta, „el Tigre“, one of the most notorious of the torturers.
Angels with Dirty Faces, S. 154
Menottis Arbeit hatte über alle politischen Grenzen hinweg positive Konsequenzen, auch für die Opfer des Regimes. Genügt dies, um seine Aktivität für moralisch unbedenklich zu halten? Ich denke nicht und werde im Folgenden für diese These argumentieren.
Hier sind zwei aus meiner Sicht intuitiv einleuchtende Prinzipien:
Wenn Du vor der Wahl stehst einem mörderischen Regime zu helfen oder nicht zu helfen, dann solltest Du ihm nicht helfen, es sei denn dies führt zu massiven negativen Folgen für Dich oder Andere.
Und hiermit verwandt:
Wenn Du es verhindern kannst, dass ein mörderisches Regime Dich für seine Zwecke einspannt, dann solltest Du dies verhindern, es sei denn dies führt zu massiven negativen Folgen für Dich oder Andere.
Zunächst einmal zum letzten Halbsatz beider Prinzipien. Soweit mir bekannt ist, drohten Menotti keine signifikanten Repressalien von Seiten des Regimes für den Fall, dass er den Job als argentinischer Nationaltrainer abgelehnt hätte. Auch ist nicht ersichtlich, inwiefern es für Dritte erhebliche negative Konsequenzen gegeben hätte, wenn er Argentinien nicht trainiert hätte. Vielleicht hätte Argentinien nicht die Weltmeisterschaft gewonnen und die Gefangenen und viele andere Argentinier hätten sich nicht über den Sieg freuen können, doch ist ebenjene Freude der Argentinier wiederum direkt mit den positiven Effekten für das Regime verknüpft. Außerdem finden moralische Forderungen zur Weltverbesserung im Kontext sportlicher Wettbewerbe nicht statt. Es soll nicht der Weltmeister werden, der durch sein Weltmeister-Werden am meisten Freude produziert, sondern es soll der Weltmeister werden, der das Turnier (mit fairen Mitteln) gewinnt.
Nun zu den ersten beiden Teilen der beiden Prinzipien. Mir fällt es, ehrlich gesagt, schwer für sie tiefergehende Begründungen anzugeben, die nicht selbst wiederum jedem Leser bereits offensichtlich sein sollten. Mörderische Regime, wie die argentinische Junta eines war, sind, ganz gleich welcher der populären Moraltheorien man anhängt, große Übel, die es zu verhindern oder zumindest einzudämmen gilt. Wie Wilson in seinem (übrigens sehr empfehlenswerten) Buch schreibt, war der Junta die Weltmeisterschaft im eigenen Land enorm wichtig – und dies nicht ohne Grund. Sie endete als gelungener Propaganda-Coup und Menottis Arbeit war ein wichtiger (wenn auch innerlich widerstrebend ausgeführter) Teil dessen. Daran mitzuwirken, dass ein Regime, welches nach Wilsons Angaben bis zu 30,000 Tote zu verantworten hat, seine Macht weiter konsolidiert, ist nur unter ganz bestimmten moralischen Bedingungen erlaubt. Ich sehe nicht, dass diese in Menottis Fall gegeben sind.
Dieser kurze Text begann mit einer einschränken Bemerkung zum Status meiner Aussagen und endet auch mit einer: Alles Gesagte gilt vor dem Hintergrund der Ausführungen aus Wilsons Buch. Sollten hierbei wesentliche Teile der Menotti-'78-Story fehlen, so haben meine Aussagen keine Geltung in Bezug auf die realen Ereignisse. Ich halte Jonathan Wilson jedoch für einen unparteiischen und gründlichen Journalisten und seine Aussagen über Menotti und die Junta für gut recherchiert.
Photo Eternaut: © CC-by-NC-ND Alessandro Grussu
Photo Junta: © CC-by- Argentine Government
Photo Passarella: public domain, by El Gráfico