Die konservative Disposition

Ein Spiel dauert nur noch 2 mal 30 Minuten. Mit effektiver Spielzeit. Und wahrscheinlich Werbeunterbrechungen, die vor den letzten 7 Spielminuten, also knapp eine halbe Stunde vor dem Abpfiff, die Energie des Spannungsbogen auch kommerziell nutzen.

So oder so ähnlich sieht wohl das Horrorszenario aus, dass einige in der letzten Woche vom IFAB Rat für Regelfragen ausgerufen sahen. Aber wie nicht selten fehlte es auch in dieser Empörungsdebatte über das nahende Ende des Fußballs an echten Argumenten für oder gegen diese Vorschläge - und erst recht an einem Prinzip, aus dem diese Argumente folgen könnten.

Gennaro Gattuso Shithousery of the Year

Zeitspiel - hier in Perfektion von Damir Kreilach und Benjamin Kessel zelebriert - steht im Zentrum der Reformbemühungen; Photo: Hupe, union-foto.de

Da dass aber nun die originäre Aufgabe dieser Seite ist, folgt hier die definitive Evaluation der Reformvorschläge. Aber was soll das Prinzip sein, nachdem wir uns dabei richten?

In seinen Uehiro Lectures und einem demnächst erscheinenden Buch argumentiert der Philosoph Sam Scheffler für die These, dass der Wert vieler unserer Aktivitäten davon abhängt, dass es weiter eine Menschheit geben wird, die unter guten Bedingungen lebt und diese Aktivitäten fortführt. Daraus folgen für Scheffler auch gute Gründe für eine Einstellung, die er 'die konservative Disposition' nennt. Sie besteht darin, wertvollen Dingen, die bereits existieren, grundsätzlich Vorrang vor gleich guten, oder auch etwas besseren Neuerungen einzuräumen.

Dass liegt nicht zuletzt daran, dass der Umstand selbst, mit etwas vertraut zu sein, ihm Wert zuzugestehen und emotional in es investiert zu sein, das Objekt solcher Beziehungen zusätzlich aufwertet. Denn (noch) nicht existierenden Dingen gegenüber kónnen wir kein solches Verhältnis haben: "One cannot value the children one has not yet conceived in the way that one values one’s existing children."

Scheffler argumentiert auch, dass diese Disposition Neuerungen nicht ausschließt, sondern im Gegenteil nach ihnen verlangt. Zum einen, weil wir neue Ideen brauchen, um bestehende Dinge zu erhalten. Und außerdem, weil ein kreativer Impuls selbst zu den bewahrenswerten Traditionen menschlicher Existenz gehört.

Obwohl Scheffler selbst diese Anwendung seiner Theorie es zu einem Teil seiner offiziellen Position machen möchte, lässt sich daraus Prinzip zur Einschätzung der Regelreform ableiten, das ungefähr lautet: Trägt jede einzelne Änderung dazu bei, die Dinge, die wir(?) an Fußball schätzen, zu bewahren? Ist dass der Fall, ist sie zu begrüßen, vor allem wenn dafür nichts wesentliches aufgegeben werden muss. Anders herum werden Vorschläge, die statt Fußball einen neuen Sport schaffen, ausgeschlossen - selbst wenn das Neue etwas besser wäre.

Rudelbildung. Nein, nicht @rudelbildung

Während der Vorschlag zur effektiven Spielzeit am meisten Aufmerksamkeit auf sich zog, beginnen die Ausführungen mit Ansätzen für ein faireres Spiel. Dazu wird einerseits Kapitäne stärker als bisher auch formal als Blitzableiter für den Zorn ihrer Teams auf den Schiedsrichter vorgesehen. Andererseits soll es härtere oder offensichtlichere Strafen für Rudelbildung geben - gelbe Karten im Spiel auf dem Platz, gezeigte gelbe und rote Karten gegen die Bank und Punktabzüge und Strafgebühren im Nachhinein.

All das könnte dazu führen, dass mehr Fußball gespielt wird, und Übertretungen teurer werden, und ist deshalb begrüßenswert.

Weniger überzeugt fällt die Zustimmung zum Vorschlag aus, Schiedsrichter sollten Trainer vor dem Spiel an ihrer Bank per Handschlag begrüßen, beziehungsweise alle beteiligten sich in dieser Geste symbolisch anerkennen. Ich bin skeptisch, dass sich der Respekt, der darin gezeigt werden soll, so entsteht - weil das aber für einen positiven Einfluss nötig wäre, ist die Sinnhaftigkeit des Prozederes fraglich.

Darüber hinaus stellt das IFAB noch zur Diskussion, dass rote Karten gegen Spieler auf der Ersatzbank damit einher gehen sollen, ihrer Mannschaft eine Auswechslung abzuziehen. Gegen diese durchaus attraktive Idee spricht aber die offensichtliche Schwierigkeit, dass sie schlecht umzusetzen ist, wenn die Mannschaft bereits dreimal gewechselt hat. Die vorgeschlagene Lösung dieses Problems: die Verminderung der Wechsel könnte auf das nächste Spiel der Mannschaft übertragen werden. Aber rote Karten sind Spielstrafen, die - abgesehen von den individuellen Strafen, die sie nach sich ziehen - nicht so indirekt wirken sollten.

Zeitenwende

Vor dem radikaleren Vorschlag, Zeitspiel zu verhindern, regt das IFAB Maßnahmen an, dieses Ziel auch ganz ohne Regeländerungen erreichen zu können. Dazu soll die "Nachspielzeit strenger berechnet werden," indem eine Reihe konkret definierter Situation als 'vergeudete Zeit' markiert werden, die Schiedsrichter konsequenter notieren sollen. Doch dieser Vorschlag ist nicht ganz so konservativ, wie er auf den ersten Blick aussieht, denn viel von der so markierten Zeit ist nicht vergeudet, jedenfalls nicht unbedingt. Das so umzusetzen würde, außer deutlich längeren Nachspielzeiten also auch eine neu-Definition des Begriffs 'vergeudete Zeit' bedeuten, die desse normative Komponente streicht.

  • Elfmeter – vom Moment des Pfiffs bis zur Ausführung
  • Tore – vom Moment, in dem das Tor fällt, bis zum Anstoß
  • Verletzungen – von der Frage des Schiedsrichters, ob ein Spieler eine Behandlungspause benötigt, bis das Spiel wieder läuft
  • Gelbe und Rote Karten – vom Zeigen der Karte bis das Spiel wieder läuft
  • Auswechslung – vom Signal der Schiedsrichterin bis das Spiel wieder läuft
  • Mauerstellen – vom Moment, in dem Schiedsrichter beginnen, die 9.15m abzuschreiten oder die Position des Ball mit dem Spray markieren bis der Ball freigegeben wird

Die Zeiten, die nach den Vorschlägen des IFAB konsequent nachgespielt werden sollen

Dass allerdings wäre ein konzeptioneller Schritt der dem Spiel selbst gerecht wird, denn die Spielzeit sollte so wenig wie möglich selbst ein taktisches Mittel sein. Deshalb ist es kein Problem, dass ein Teil der differenzierten Auswirkung der bisherigen Bestimmung - dass eine Mannschaft, die Zeit vergeudet hat, diese nicht selbst zur Verfügung bekommt, wenn sie in der Zwischenzeit das Ergebnis verliert, das sie über die Zeit bringen wollte - damit entfällt. Aus dem selben Grund ist auch vertretbar, vom Begriff vergeudeter Zeit abzurücken, da das Ziel, dem damit nachgegangen wird, automatisch erreicht wird, wenn nicht nur, aber auch alle vergeudete Zeit nachgespielt wird. Mit der Effektivität von Zeitspiel sollte auch die Motivation dazu sinken.

Letzteres würde auch mit der Einführung der effektiven Spielzeit angestrebt. In einer vorsichtigen Variante nur in den letzten 5 Minuten der ersten und den letzten 10min der zweiten Halbzeit. Diese Version ist nicht nur unnötig kompliziert, sondern fußt auch auf einer falschen Einschätzung: dass in diesen Phasen am meisten auf Zeit gespielt werde. Das stimmt schon jetzt nicht, wäre aber spätestens dann nicht mehr der Fall.

Die zweite Variante ist die vieldiskutierte, in der ein Fußballspiel nicht mehr 90 fortlaufende Minuten dauern würde, sondern 2 mal "zum Beispiel" 30 Minuten effektiver Spielzeit, in denen die Uhr mit dem Spiel angehalten wird. Damit würde eine der raum-zeitlichen Grundlagen des Spiels, die seit mindestens 125 Jahren unverändert geblieben ist, revolutioniert. Und das in einer Weise, die Meinungen polarisiert. Manche Beobachter sehen darin eine effektive und notwendige Lösung für ein gravierendes Problem. Andere merken nicht nur skeptisch an, dass durch potentiell längere Unterbrechungen zwischen Spielszenen das Spiel lediglich auf andere Weise verschleppt werden würde, sondern fürchten auch, dass das gar nicht die eigentliche Absicht, oder zumindest wesentliche Folge einer solchen Änderung wäre. Diese vermuten sie eher in Werbepausen inmitten des Spiels, über die zwar das IFAB nichts sagt (weil es damit nichts zu tun hat), für die es aber jetzt Gelegenheit gäbe, ohne den Status des Spiels durch sie zu ändern oder Spielszenen zu verpassen. Dass es zumindest in manchen Sendern ein Bedürfnis danach gibt, kann niemand bezweifeln, der schon einmal auf Murdochs Programm Szenen in einem Rahmen von Werbung gesehen hat.

Welche Seite auch immer besser projiziert, wie sich Fußball mit effektiver Spielzeit entwickeln würde: es scheint keine Lösung zu geben, die eindeutig besser sehr viel besser ist als die andere. Dafür würde sich, folgte man dem Vorschlag, Fußball konzeptionell grundlegend verändern und nicht mehr das Spiel sein, dem Millionen von Fans in seinen Traditionen und Geschichten verbunden sind. Genau in solchen Fällen weist die konservative Disposition an, bestehende Werte zu bewahren - und mit kreativen Reformen, die sie nicht wesentlich verändern, zu erhalten. Eine solche Reform ist der zuerst diskutierte Lösungsvorschlag des IFAB.

Wesentliche Änderung

Darüber, welche Änderungen das Wesen des Spiels wie stark beeinflussen, herrscht nicht unbedingt Einigkeit. So ist ein weiterer Vorschlag des IFAB, der praktisch nur ein Detail ändert, konzeptionell ein fast größerer Schritt als der hin zu effektiver Spielzeit: reguläre Strafstöße im laufenden Spiel könnten demnach wie Elfmeter im Elfmeterschießen ausgeführt werden, also ohne die Möglichkeit zum Nachschuss. Stattdessen würde unmittelbar nach dem Schuss abgepfiffen, auch wenn kein Tor fällt - ohne das aus dem IFAB Papier klar würde, wer danach etwa in Ballbesitz wäre.

ifab_penalties

Der IFAB Vorschlag zur Reform des Elfmeters

Damit würde sich zwar nur in einer eng gefassten Zahl von Situationen etwas ändern, aber diese Änderung würde etwas grundsätzlich neues in den Fußball einführen: abgeschlossene Sub-situationen wie den ersten Freiwurf im Basketball, die nach ihrem inhaltlichen Ausgang abgepfiffen werden. Es gehört zum Kern von Fußball, dass das Spiel fortlaufend ist und Unterbrechungen sich nur aus den Grenzen des Spiels ergeben. Dieses Prinzip würde hier verletzt.

Weil außerdem das Problem, dass IFAB so lösen will, eher unerheblich und die Lösung wenig elegant ist, fällt es schwer Gründe dafür zu finden.

Außerdem

Weil dieser Artikel schon lang genug ist, sortieren wir die übrigen Vorschläge lediglich kurz ein, ohne Begründung. Die kann gern in den Kommentaren nachgefragt werden.

  • Der Ball darf beim Abstoß rollen
  • Abstöße müssen auf der Seite ausgeführt werden, auf der der Ball ins Aus geht
  • Man darf sich Freistöße selbst vorlegen oder aus ihnen dribbeln
  • Ausgewechselte Spieler verlassen das Feld auf dem kürzesten Weg
  • Nachspielzeit im Stadion anzeigen
  • ABBA-Schema für Elfmeterschießen
  • Verteidiger dürfen Abstöße im Strafraum annehmen
  • Rote Karten für Tore per absichtlichem Handspiel
  • Elfmeter statt indirektem Freistoß für Rückpässe
  • durch Handspiel verhinderte Tore künstlich anerkennen
  • das Spiel nur Abpfeifen, wenn der Ball aus dem Spiel ist
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